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"Der Planet Amanshauser ist mit diesem Buch in eine neue Umlaufbahn eingetreten." Sebastian Fasthuber, Der Standard

"Der bislang zärtlichste Weltraumroman der österreichischen Literaturgeschichte." Klaus Nüchtern, Falter

"Der erste Weltraumroman, den man in einer Nacht durchliest und anschließend trotz Schlafmangels wirklich gute Laune hat!" Martin Jankowski, Satt.


Alles klappt nie
Roman, Deuticke Verlag, 2005.


Textprobe:

1 Viehböck im Fontana Park

Der Reißverschluss seines Trainingsanzugs verklemmte sich und riss ein Büschel Brusthaare mit. Viehböck stieß einen Schrei aus. Früher waren solche Missgeschicke nie passiert. Vielleicht wuchsen die Brusthaare ab dem 60. Geburtstag stärker, um die natürliche Einbuße an Manneskraft auszugleichen. Ab sechzig befand man sich auf einer rasanten Talfahrt in Richtung Friedhof. Jugendliche mit Skateboards überließen einem in der Öffentlichkeit den Sitzplatz, die Blutwerte überstiegen die Toleranzgrenzen, das Körpergewebe wurde nachgiebig. Nur der Appetit auf ungesundes Zeug erlahmte nie. Er drückte Ketchup auf den Leberkäse. Die Substanz wurde aus Tomaten erzeugt, sie enthielt das eine oder andere Vitamin.

Die Dämmerung fiel rasch über den Fontana Park, die Sonne versank in einer bauschigen Wolkenfront. Über Viehböcks Wangen geisterten die Lichtreflexe des Fernsehgeräts, das ohne Lautstärke lief. Er strich mit dem Finger über den Stoff des Trainingsanzugs, dort, wo er sich die Haare eingeklemmt hatte. Wäre Jenny Li nicht in einer konstanten Entfernung von 376 Kilometern über der Erdoberfläche in der Magna Station gekreist, hätte er beim Essen nie Freizeitkleidung getragen. Außerdem hätte er keinen Leberkäse gegessen, sondern etwas Grünes, was sie auch mochte.

Der Trainingsanzug war bequem geschnitten, doch das hellblaue Logo mit der Aufschrift „Magna“ verpatzte alles. Westenthaler hatte ihn eines Tages mit der für ihn typischen Fürsorge vor seine Haustür gelegt, zusammen mit einer dieser originellen Grußkarten, die beim Öffnen eine Melodie abspielten, „Show me the way to the next whisky bar“, eine Anspielung auf Viehböcks Aufenthalt im Sanatorium Kalksburg – der Humor Westenthalers.

Am Bildschirm erschien das selbstzufriedene Gesicht von Rogan. Seit Rogan trotz seiner technischen Unwissenheit für die Weltraummission zur Magna Station ausgewählt worden war, brachten die Sender pausenlos Portraits. Rogan als „Goldfisch“ bei den Olympischen Spielen 2008, Rogan am Allgemeinen Krankenhaus in seiner neuen Karriere als Arbeitsmediziner und Internist, Rogan 2014 in der Schwerelosigkeit der privaten „Eternity Station“, der ersten kommerziellen Raumstation der Geschichte, Rogan als Leiter der „Magna Health“: Bilder eines Siegertypen, der seine Glückssträhne eloquent kommentierte und sympathisch relativierte. Und gerade dieser Rogan musste Jenny Li besuchen!

Erst als Viehböck sein eigenes Gesicht am Bildschirm auftauchen sah, drückte er den Lautstärkebutton nach rechts. Er war selbstkritisch genug, um die Jämmerlichkeit seiner Auftritte zu analysieren. Sobald eine Kamera in die Nähe kam, schienen sich seine Tränensäcke aufzublasen, das Doppelkinn wurde zu einem Tripel- und Quadrupelkinn, unabhängig davon, wie hoch er den Kopf hielt. Hielt er ihn zu hoch – wie bei dieser Aufnahme – wirkte er arrogant. Die Flecken auf den Wangen und die dunkelrote Nase verrieten den Alkoholiker noch drei Jahre nach dem letzten Tropfen. Zudem war die Haut auf seiner hohen Stirn matt wie die einer Leiche.

„Ich denke, die Mission wird ein Quantensprung für die Raumfahrt und für Magna“, hörte Viehböck sein TV-Spiegelbild lügen. „Ich schätze Rogans Arbeit. Und falls Sie die persönliche Seite ansprechen: Er wird Jenny Li meine besten Grüße ausrichten!“

Wie immer im Fernsehen klang sein Lachen metallisch. In den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte Viehböck hohe Beliebtheitswerte erreicht, davon war wenig übrig. Dazwischen lagen Katastrophen, LKW-Ladungen fettigen Fleischs, Seen scharfer Getränke. Viehböck war froh, dass er kaum mehr Lust auf Alkohol verspürte. Die wahren Versuchungen begannen jedoch erst, wenn man überzeugt war, sie hinter sich zu haben. Er schaltete die Tischlampe ein und litt, weil dieser Bürokrat im labbrigen Lacoste-Shirt über dem Insert „Viehböck, Leiter der Magna Space School“, nicht vom Fernseher verschwand.

Viele meinten, er habe eine Frau wie Jenny Li nicht verdient, und er selbst war geneigt, sich dieser Auffassung anzuschließen. Was ihn aufbrachte, war, dass jeder Staatsbürger eine Meinung zu seiner Person und zu seinem Privatleben hatte. Die gehässige Öffentlichkeit war ein Grund dafür gewesen, dass er Jenny Li gebeten hatte, ihn zu heiraten. „Wenn mein Shuttle in der Erdatmosphäre verglüht“, meinte Jenny Li in der Hochzeitsnacht, „dann sterbe ich als verheiratete Frau, und alles hat seine Ordnung.“ Manchmal konnte man nicht ernsthaft mit ihr reden.

Jenny Li rotierte zur Freude von Werbekunden und TV-Stationen bereits siebenundzwanzig Tage um die Erde. Der Besuch aus Europa sollte weiteres Aufsehen erregen. Es ging um die Promotion für das zukünftige Weltraumhotel. Rogan mit seiner Olympiavergangenheit, Jenny Li mit ihrer Vergangenheit als Model – das war die Rechnung.

Vier Monate zuvor hatte eine Umfrage erhoben, welcher Kandidat ins All fliegen sollte. Die Befragten nahmen keine Rücksicht auf Ehestatus oder wissenschaftliche Logik. Es standen zwei Kandidaten zur Verfügung: 6% hatten sich für Viehböck ausgesprochen, 94% für Rogan. Es war klar, dass die 14-jährigen Mädchen, die sich an solchen Sondierungen beteiligten, das faltenlose Gesicht des Goldfischs vorzogen, dem man seine 38 Jahre nicht ansah. Viehböck schmerzte jedoch die Radikalität des Ergebnisses. Er pflichtete Westenthalers Auffassung bei, irgendwelche dubiosen Rogan-Fanclubs würden solche Votings durch digitale Kettentelefonate manipulieren, doch insgeheim mutmaßte er, dass das Ergebnis ein realistisches Stimmungsbild wiedergab.

Er hatte längst keinen Fanclub mehr. Seinen historischen Verdienst, als erster seiner Landsleute im Weltraum gewesen zu sein, konnte ihm allerdings keiner nehmen. Er hatte 1991 acht Tage lang die legendäre Raumstation MIR bewohnt, ein schlanker, junger Ingenieur für Elektrotechnik – beinahe drei Jahrzehnte war das her. Fünfzehn Jahre lang war alles perfekt gelaufen. Doch nach der Scheidung von seiner ersten Frau floss ein Strom von Heineken und Vogelbeerschnaps durch seine Kehle. Ziemlich rasch begann das, was man selbst nie für möglich hält: die sogenannte „Wasserrutsche in den Bodensee“, die Karriereleiter nach ganz unten.

Viehböck erhob sich, um Leberkäse-Nachschub zu holen. Er stöhnte – an manchen Tagen erschöpfte ihn sogar das Aufstehen. In der utopischen Gesellschaft in einem der Science-Fiction-Hefte, die er neuerdings von Jenny Lis Lesestapel nahm, bekamen die Senioren bei Erlangung des Pensionsalters eine Gnadenspritze verpasst. Durch die saubere Entsorgung lagen sie dem Gesundheitssystem nicht auf der Tasche. Das klang vernünftig.

Am TV-Schirm flog die Animation der Magna Station durch schwarzes Nichts. Er war froh, die Raumfahrt wiederzuhaben. Dem Magna-Konzern hatte er sein zweites Leben zu verdanken. Der alte Stronach, schon damals weit über achtzig, war eines Tages in seiner 2-Zimmer-Wohnung in Kagran gestanden und hatte ihn zur Mitarbeit am Spaceprojekt eingeladen, „als führendes Symbol der Nation“.

„Jeder kriegt zwei Chancen im Leben“, hatte Stronach gesagt, Viehböck stutzte, denn Stronachs kanadischer Akzent mit steirischer Färbung machte Wörter wie „Chancen“ und „Symbol“ zu Lotterien.

Stronach tat, was nötig war, um sein „führendes Symbol“ zum Leben zu erwecken. Er ernannte Viehböck zu seinem persönlichen „Space-Consulter“, beglich die Schulden, verschaffte ihm ein Apartment im Fontana Park, beim Magna-Weltraumbahnhof Oberwaltersdorf, und finanzierte einen ergebnislosen und einen erfolgreichen Kalksburg-Aufenthalt.

Viehböck begann mit dem Networking für Magna. Es überraschte ihn, dass seine Kontakte nach Russland, Kasachstan und in die USA noch existierten. In den Jahren seiner Abwesenheit schien sich die Weltraumbranche kaum bewegt zu haben. Die Seilschaften aus dem Kalten Krieg funktionierten wie damals.

Viehböck konsolidierte sich. Kein Alkohol, keine Tranquilizer, höchstens zwei oder drei Riesenpizzas. Wirklich aufgeweckt wurde Viehböck jedoch durch Jenny Li. Er hatte die kanadische Atomphysikerin auf einem Fest im Golfclub Fontana von Oberwaltersdorf kennen gelernt, vier Stunden hatten sie an diesem ersten Tag miteinander gesprochen! Zu seiner Überraschung glückte ihm in ihrer Gegenwart alles. Er war wie früher, nicht mehr fett und verlebt, sondern voller Energie. Der Altersunterschied erschien nur den anderen seltsam. Als sie ein Paar geworden waren, hatte er beschlossen, möglichst wenig über dieses Wunder nachzudenken, um es nicht zu gefährden.

Seit jenem Abend im Fontana Club verzichtete er auf Fleisch und Ketchup, zumindest, solange Jenny Li sich in seiner Nähe befand. Inzwischen hatte er fünfzehn Kilo abgenommen. Manchmal fehlte ihm die Substanz der letzten Jahre, denn Abnehmen laugte aus. Zur Zeit sah Viehböck keinen Grund für Entsagung, er fühlte sich hungrig – und nervös. Jenny Li kreiste in der Magna Station um die Erde, Rogan sollte sie in zwölf Tagen besuchen. Geplant waren acht Tage Aufenthalt zu zweit, vor der gemeinsamen Rückkehr zur Erde. Jenny Li bezeichnete den Goldfisch zwar als „unreif“ und „verzogen“, aber das war die Art, wie junge Frauen zu älteren Männern über jüngere Männer redeten.

Viehböck vermied Gespräche über Rogan. Wer Befürchtungen aussprach, den holten sie allzu schnell ein. Es hatte Verdachtsmomente gegeben. Solange er sich nicht damit beschäftigte, existierten sie nicht. Trotzdem flog der Falsche in den Himmel. Jenny Li würde sich in der Intimität der Raumstation der gewinnenden Art des Goldfischs nicht entziehen können. Das gemeinsame Betrachten des Heimatplaneten aus einer Außenposition erzeugte unweigerlich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Es kränkte Viehböck, dass er nicht fliegen durfte. Expertentum, Erfahrung und wissenschaftliches Verständnis, das alles galt weniger als je zuvor. Es blieb ein Faktum, dass in einem Apparat wie der Magna Station kaum Forschung betrieben wurde. Sie hatten ein wissenschaftliches Budget und Testreihen, doch der Flug war ein Werbeprodukt und diente Konzerninteressen. Magna, einst nur Lieferant von Automodulen, positionierte sich in der boomenden Branche der nichtstaatlichen Raumfahrtsunternehmen. In zwei Jahren, 2022, sollte auf der Raumstation ein Space Hotel eröffnen.

Im Orbit herrschten die Gesetze der Marktwirtschaft: Flugtickets gab es während der Probe- und Werbephase nur für junge, dynamische Mitarbeiter. Viehböck hatte mit Bitterkeit verzeichnet, wie der Goldfisch von der sogenannten „Öffentlichkeit“, in Wahrheit aber durch schiere Medienmacht, ins Cockpit reklamiert worden war. Die Leute glaubten heutzutage, dass man mit 60 am Ende war, wenn nicht schon mit 55. Zum Glück dachte Jenny Li anders. Sie begehrte, wie sie sagte, keine Männer, die nur zehn Jahre älter waren als sie selbst.

Er durfte gar nicht daran denken. Eifersuchtgefühle waren mit dem Blutdruck gekoppelt, und eine Blutdruckkrise wäre fatal. Rogan stand für das Leben, das Jenny Li außerhalb seines Bereichs führte, und das er ihr zugestehen musste.

Leider gab es noch diesen chinesischen Unvater, an den er ebenfalls nicht denken durfte. Es hätte eine stärkere Disziplin als die Psychoanalyse gebraucht, um Jenny Lis „hervorragendes“ Vaterverhältnis aufzulösen.

Dieser bauernschlaue Chinese tat so, als führte er einen Zirkus und ein paar Restaurants, war aber in Wirklichkeit Boss eines Kultur- und Gastro-Imperiums, betrieb Menschenhandel und ging beinhart gegen Mitbewerber vor. In den kanadischen Boulevardmedien spielte Li Chang Li den Salonclown – alle liebten ihn – und mit Jenny Li war er untrennbar verbunden. Sie bekam diese hilflose Stimme, wenn sie mit ihm telefonierte. Ihr Tonfall erinnerte ihn an ein armseliges, sich ständig erneuerndes Friedensangebot.

Viehböck blickte auf seine Magna-Uhr, die er trug, seit Westenthaler ihm nahegelegt hatte, auf diese Art Konzernidentität zu demonstrieren. Gegenwärtig zeigte sie an, dass die Magna Station als bewegliches Pünktchen über den Himmel zog – während vierundzwanzig Stunden umrundete sie sechzehn Mal die Erde. Er öffnete einen Fensterflügel, atmete die warme Luft ein, schloss ihn jedoch gleich wieder. Bei Westenthaler gegenüber brannte Licht, und die Vorhänge bauschten sich. Viehböck wollte vermeiden, dass ihn der Nachbar über dreißig Meter hinweg in ein Gespräch verwickelte. Aus unerfindlichen Gründen war ihm Westenthaler, der so viele Feinde hatte, immer wohlgesonnen.


2 Jenny Li in der Magna Station

Jenny Li hatte sich die Arbeit auf der Raumstation anders vorgestellt. Die meisten Tätigkeiten hatten wenig mit ihrer Ausbildung als Atomphysikerin zu tun. Eine Serie von Kleindefekten, deren Ursprung man nie zu fassen kriegte, beschäftigte sie ebenso wie die PR-Auftritte im Hauptmodul, dem „Atemraum“, und die Testreihen im Schweberaum. Auch auf der Magna Station erfüllte sich die Kochergin´sche Weltraumregel: Auf Anhieb funktioniert gar nichts. Unter der Oberfläche des hellblauen Innendesigns verbargen sich die ungelösten und die unlösbaren Probleme.

Einmal richtete man die widerspenstigen Solarzellen neu auf die Sonne ein, weil der Strom knapp wurde, ein andermal streikte einer der Sauerstoffgeneratoren, dann hing der Bordrechner. Wie bei den Windows-PCs ihrer Jugend traten laufend Fehler auf, die man durch Formatieren, Kalibrieren oder einfach durch Handauflegen heilte. Man drang, wie damals bei Windows, nie zum Kern des Problems vor. Die pure Quantität der Versuche produzierte früher oder später ein Ergebnis.

Nicht alles an der Internationalen Raumstation ISS, dem gescheiterten internationalen Megaprojekt, war schlecht gewesen. Die Zukunft gehörte jedoch winzigen Raumstationen wie der Magna Station, in denen die Bedürfnisse der Werbekunden auf Kosten der Sicherheit und des Wohnkomforts befriedigt wurden. Wollte man je ein Weltraumhotel eröffnen, musste der ganze Krempel raus. Jenny Li überblickte ihre dreißig Quadratmeter, den Atemraum: Was für ein Unterschied zur klobigen Ästhetik von ISS und MIR!

Die Magna Station orientierte sich nicht an der NASA, sondern an Raumschifflandschaften der Science-Fiction-Filme. Für Kosmonauten wie Viehböck war das lächerlich. Man hatte weniger Platz als in der MIR, das Wohnmodul war ein einziger optischer Effekt. Zum Atemraum kamen fünf Quadratmeter Schweberaum und zwei Schleusen – eine Junggesellenwohnung.

„Oberwaltersdorf an Jenny Li! Bitte zur Abendkonferenz in den Videobereich.“

Der militärische Tonfall des Projektleiters ödete sie an. Sie kühlte ihren Nacken an der Plastikverkleidung der Schlafkoje und schaute aus der Luke. Bei der heutigen Konferenz, der Wochenbilanz zum Abschluss der vierten Woche im Weltall, würden alle Entscheidungsträger anwesend sein. Abendkonferenz – draußen war windloser Abend, sternenbesprenkelte Halbnacht, die in dreißig Minuten in helllichten Tag kippen würde, und durch die sie mit 28.000 Stundenkilometern raste, ohne von ihrer Bewegung Notiz zu nehmen.

Wer auf Befehle sofort reagierte, büßte an Unabhängigkeit ein. Während achtundzwanzig Tagen Rotation hatte Jenny Li einiges gelernt. Sie dachte an den zweiten Tag, als sie irrtümlich Schwerelosigkeit im Atemraum hergestellt hatte. Die Verblüffung, als ihre Gummischuhe plötzlich den Bodenkontakt verloren! Jenny Li lächelte bei der Erinnerung an die Instant-Nudeln „Li´s Vermicelli Dream“, die den Teller verließen. Der Teller hob sich ebenfalls, er schwebte den Nudeln hinterher wie ein besorgter Hundebesitzer.

Experimente in der Schwerelosigkeit waren normalerweise dem Schweberaum vorbehalten, der mit dem Atemraum durch Schleuse 2 verbunden war.

„Jenny Li, bitte kommen!“

Vor dem Spiegel in Schleuse 2 zog sie ihren Lidstrich nach. Sie hatte sich vor der Ruhephase geschminkt, Maskara und Makeup sahen jetzt perfekt aus. Sie mochte ihr Gesicht vor allem morgens, wenn sie sich über Nacht nicht abgeschminkt hatte. Sie schminkte sich selten ab. Den Männern fiel das nicht auf, viele lebten im TV-Irrglauben, „nicht abgeschminkt“ würde „verschmiert“ bedeuten. Weil Jenny Li immer geschminkt war, glaubten viele Männer, das sei ihr normales Aussehen.

Auch die restlichen Kleinigkeiten hatte sie im Griff. Die Richtung der Solarzellen stimmte, die Bordsysteme liefen reibungslos, und das Shuttle namens Weiz, das aktuelle CRV – Kürzel für „Crew Return Vehicle“ – war startbereit. In Notfällen konnte man die Magna Station jederzeit evakuieren.

Sie ging von Schleuse 2 durch das magnafarbene, rund geformte Design zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Gegenüber des Sitzes der Crewchefin waren zwei ausklappbare Plastikstühle in der Wand eingelassen, in Ohrenform-Design. Auf einen davon war die Kamera gerichtet, auf den „Officer Chair“. Von hier aus führte sie die Videokonferenzen, hier saß sie auch bei den Private Talks mit Viehböck. Momentan spielte Jenny Li Crewchefin und Erster Offizier gleichzeitig.

„Ich wiederhole, Jenny Li bitte kommen!“

Jenny Li stellte ihren Status auf „Verzögerung“ und wandte den Blick zur Luke. Wie eine Billardkugel mit Venen schwebte der Planet durch den Raum. Hellblau, nicht unähnlich dem Magna-Logo, befand er sich so weit entfernt, dass jeder Befehl von dort an Nachdruck vermissen ließ. Autorität reichte nicht bis in den Orbit. Der Gedanke erzeugte eine Unruhe im Magenbereich: Alles, was Jenny Li unternahm, unternahm sie letztlich, weil sie es selbst für richtig hielt.

Oberwaltersdorf war von ihr abhängig, nicht umgekehrt. Im Weltraumbahnhof hatten sie noch nicht begriffen, wie Macht exponentiell zur räumlichen Distanz abnahm. Jenny Li erfüllte die Rolle der Astronautin perfekt, fast ein Monat schon, und sie hasste diese Perfektion. Magna erwartete eine extrem niedrige Fehlerquote, und Jenny Li kam der Erwartung nach. Seit langer Zeit, so lange sie denken konnte, kam sie Erwartungen nach.

Vermutlich liebte sie deshalb Tank Girl, die Anarchistin aus dem Comic, der es keinerlei Kopfzerbrechen bereitete, brave Passanten, die ihr eben noch den Weg erklärt hatten, mit dem Panzer zu überrollen. Tank Girl sah aus wie eine Mischung aus Punk und Skin, und so benahm sie sich auch. Jenny Li mochte das Unprotestantische und Moralfreie ihrer Handlungen, und ihren Bierkonsum, vielleicht, weil sie selbst keinen Alkohol vertrug.

Die Suchtgefährdung faszinierte sie auch an ihrem Mann. Mit nichts, was er anfing, konnte er aufhören. Das war auch eine gute Eigenschaft! Jenny Li seufzte – wie immer beim Gedanken an Viehböck sorgte sie sich. Jetzt saß er bestimmt in seinem Apartment im Fontana Park und stopfte Fleisch mit hohem Fettgehalt in sich hinein. Im letzten Private Talk war ihr klar geworden, in welchem Ausmaß er unter dem bevorstehenden Besuch Rogans litt.

Wäre sie beim unseligen Printemps-Fest bei sich gewesen, hätte sie jetzt ein reines Gewissen. „Macht euch keine Sorgen um euer Gewissen“, sagte Tank Girl in der zweiten Verfilmung aus dem Jahr 2010. „Im Leben verliebt man sich alle drei Wochen neu, unter Umständen mehrmals hintereinander in den gleichen Mann.“ Jenny Li hatte sich in niemanden verliebt! Und was hieß überhaupt reines Gewissen? Tank Girl hatte auch keines, und Tank Girl war die perfekte Lehrmeisterin für Leute, die andauernd Vorgaben erfüllten, während sie planten, sie irgendwann nicht mehr zu erfüllen. Jenny Lis Gewissen war wie zuvor. Rogan bedeutete ihr nichts, absolut nichts, also ging Viehböcks Eifersucht ins Leere.

„Jenny Li, bitte eine Mitteilung an Mister Stronach über den Zeitpunkt des Konferenzbeginns!“

Diese Lakaien schoben „Mister Stronach“ vor, sobald sie meinten, eine Sache eilte. Jenny Li erneuerte den Verzögerungs-Status. Sie stellte sich vor, wie sie den Weltraumbahnhof Oberwaltersdorf per Knopfdruck in die Luft jagte. Ein kleiner Gewaltausbruch wäre durchaus gerechtfertigt gewesen. In ihrer Phantasie sah die Explosion kurios aus, wie im Comic flog alles durcheinander, dazwischen schwebten Wortungetüme wie Splash und Rummms.

Sie vermisste Viehböcks breite Schultern, an denen man bequemer lehnte als an dieser Plastikverkleidung. Nur in seiner Anwesenheit kriegte sie ihre Tagträume unter Kontrolle. Sie war es leid, in ihrer Vorstellung alles in die Luft zu sprengen, niederzubetonieren, flach zu schießen, und ansonsten sämtliche Erwartungen zu erfüllen.

Es wäre wunderbar gewesen, als Ehepaar ins Weltall zu fliegen, doch Viehböck war einfach nicht gesund genug. Vielleicht würden sie eines Tages die Reise zu einem Weltraumhotel wagen.

„Als Pensionistengeschenk zu meinem Achtzigsten“, hatte er gescherzt.

Viehböck hatte sich trotz seiner Herzprobleme – die er verschwieg – um ein Ticket zur Magna Station bemüht. Er schob seine gesundheitliche Schwäche auf den „Blutdruck“, er tat so, als sei er mehr oder weniger fit. Allein wegen seiner Erfahrung wäre er ein guter Astronaut gewesen, doch private Shuttlebetreiber suchten keine guten Astronauten, sondern Werbeträger. Viehböck wartete bereits neunundzwanzig Jahre auf seinen zweiten Weltraumflug, seit jenem Jahr 1991, in dem Jenny Li in Toronto das Licht der Welt erblickt hatte.

Sie war alarmiert gewesen, als sie begriff, wie ernst er es meinte: In einem Interview mit der Kronen Zeitung behauptete er, sich „durchaus in Form“ zu fühlen, nicht nur als Consulter: „Wenn Stronach mich ruft, fliege ich“, hieß die Überschrift. Allerdings rang Viehböck schon auf den steilen Stiegen zur Leitstelle in Oberwaltersdorf nach Luft. Spätestens beim Verlassen der Atmosphäre wäre er kollabiert.

Stronach hatte Viehböcks Ansinnen neutral aufgenommen. Das verwunderte nicht, Stronach nahm Ansinnen grundsätzlich neutral auf und traf seine Entscheidungen schließlich „in aller Objektivität“, also alleine.

Zum Glück waren Viehböcks Pläne vom Engagement Rogans durchkreuzt worden, der alle Argumente und alle Medien auf seiner Seite hatte. Jenny Li hatte die Kampagne für Rogan und gegen Viehböck zwar entwürdigend gefunden, das Resultat jedoch erleichternd.

„Hallo Jenny Li!“ Eine bekannte Stimme im Funkkanal – wenn der Projektleiter zu lange ins Leere quasselte, drängte die nächsthöhere Ebene zum Mikrofon. „Hier Westenthaler, alles in Panik auf der Titanic?“

Es wunderte Jenny Li, dass Stronach diesen ewig frohsinnigen Westenthaler als Sekretär beschäftigte. Er war deutlich über fünfzig, aber mit seinem Bubengesicht wirkte er wie fünfzehn. Sein Akzent im Englischen war liebenswert, seine Witze niederschmetternd. Sie fand es kurios, wie Westenthaler mit ihr flirtete. Wahrscheinlich war er schwul.

Sie antwortete weiterhin nicht. Sollte sie zur Entspannung die Triosonate von Dietrich Buxtehude auflegen? Nein, nicht jetzt, auf dem Schaltpult blinkte ein rotes Licht. Rote Lichter blinkten, sobald eine Gefahr drohte, aber auch, wenn ein Lämpchen defekt war. Sie klickte auf das Objekt. Es war der ausrangierte Satellit „CCCP“, ein Nachbar, der in einem Parallelorbit kreiste. Seine Umlaufbahn schien nicht mehr zu stimmen. Das konnte ihr so lange gleichgültig sein, als der CCCP der Magna Station nicht ins Gehege geriet. Jenny Li klopfte mit der Handfläche auf den Rechner.

„Jenny Li, nochmals der Mann, den sie West nennen! Alles okay da oben im Himmel?“

Das Blinken erlosch. Es war wohl doch ein Defekt des Lämpchens. Die Einzelteile der Station waren Schrott und die Software fehlerhaft. Jenny Li kamen die Kosmonauten der legendären Raumstation MIR in den Sinn. Zu Viehböcks Zeit war die MIR intakt gewesen. Je weiter die Neunziger Jahre voranschritten, desto öfter mussten die Kosmonauten improvisieren.

Viehböcks Nachfolger hatten handfeste Probleme. Einmal krachte ihnen sogar eine Progress-Rakete ins Modul, zerdrückte die Sonnenkollektoren und schlug die Station leck, wonach die Kosmonauten den Druckabfall in den Ohren spürten und zwei Drittel der Strom- und Datenkabel notkappten.

Viele sprachen von der „leichten Bedienbarkeit“ moderner Raumstationen, doch der Tagesablauf war sowohl in der MIR als auch in der Magna Station ein Kampf gegen Lappalien. Alles funktionierte, und dann funktionierte wieder gar nichts. Den Scotty, Chefingenieur des Raumschiffs Enterprise, spielte man sich zwangsläufig selbst. Überhaupt verlief eine Rotation anders als Raumflüge in Science-Fiction-Filmen. Wann suchte Captain Kirk wegen eines dringenden Bedürfnisses Schleuse 2 auf, wann drehte er einen Werbespot? Jenny Li wünschte sich manchmal sein Leben – Krieg gegen galaktische Ungerechtigkeiten.

Sie schloss die Augen. In ihrer Phantasie hatte eine außerirdische Intelligenz den CCCP gekapert, der Satellit machte Jagd auf die Magna Station – mit der jungen, entschlossenen Jenny Li am Sitz der Crewchefin. Laut Drehbuch verhielte sie sich extrem loyal zum Konzern, stellte sich letztlich aber im Namen der Gerechtigkeit auf die Seite der Zukunft. Dabei musste sie mit Waffengewalt gegen ihre früheren Arbeitgeber vorgehen und Stronach, Rogan oder Westenthaler erschießen, egal wen. Es würde ihr leid tun, aber es ginge nicht anders. Sie überlegte, welcher der drei Kandidaten sterben musste – sicherlich Rogan, er war der Jüngste, Schönste, Wertvollste, um ihn würden die meisten Menschen trauern.

„West ruft Jenny Li. Können wir im Videobereich beginnen?“

In ihren Träumen ging es wild zu, nicht erst im Weltall, das war so, seit sie denken konnte. Sie handelten von Flugzeugabstürzen, Entführungen, Verfolgungsjagden. Viehböck war der erste Mensch gewesen, dem sie einen Einblick in diese Welt erlaubt hatte: Er ließ sich ihre Nachterlebnisse in Fortsetzungen erzählen.

„Besser, als du würdest von deinem Vater träumen“, sagte er.

Jenny Li setzte die Kopfhörer auf, beendete den Verzögerungs-Status und strich ihren Dress mit dem hellblauen Logo glatt. Dann klappte sie das Plastikohr nach unten. Ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, das kanadische Ahornblatt an die Wand dahinter zu projizieren. Die Kollegen in der Bodenstation durchschauten allmählich diese widerkehrende Fehlleistung.

„Hallo Boys!“ Sie drehte den Bildschirm mit der Videototale der Leitstelle in Oberwaltersdorf in ihre Richtung. „Es kann losgehen.“

Im Weltraumbahnhof saß die Riege der alten Männer. Mit einem Lächeln konnte man sie blenden, das fiel Jenny Li nicht schwer. Erstaunlicherweise erweckten diese Personen auch von einer Rotationsbahn aus betrachtet einen korrekten Eindruck. Schwarze Anzüge mit schmalen Krägen, frisch in der Fontana-Wäscherei gebügelte Hemden. Neben Westenthaler thronte die weiße Mähne von Stronach.

Jenny Li stellte sich vor, wie es aussehen würde, wenn sie Westenthaler ein Projektil ins Herz schösse. Rotes Blut würde durch sein eierschalenfarbenes Hemd sickern. Er würde eine Hand nach Stronach ausstrecken, Hilfe suchend, und mit traurigen Augen zusammenbrechen. Diese Gewaltvorstellungen ließ sie bereitwillig zu. Wehrte sie sich nicht, verschwanden sie von selbst.

„Sichtung einer hübschen Biene, die über unseren Köpfen brummt“, rief Westenthaler, auf den natürlich nie jemand schoss.

Jenny Li fiel auf, dass sich nur Stronach die Mühe eines Lächelns machte.

Während der Routinefragen bei der Wochenbilanz, Fragen nach dem Verlauf der Testreihen und ihrem persönlichem Befinden, kontrollierte sie noch einmal das Schaltpult. Der CCCP, dieser widerspenstige Satellit aus den Achtziger Jahren, rief weiterhin das rote Blinken hervor. Zudem hatten sich einige Warnfenster geöffnet.



3 Westenthaler nach Mitternacht im Fontana Park

Eine Stunde nach Mitternacht herrschte im Fontana Park Ruhe. Das einzige Geräusch war das Rauschen der kanadischen Rasensprenkler. Westenthaler saß auf seiner Veranda. Er trommelte mit den Absätzen seiner genagelten Schuhe auf den Boden. Als er sich dessen bewusst wurde, stoppte er. Es schadete den Schuhen, es schadete dem Rasen.

Der Fontana Park war ein wunderbares Fleckchen Erde, eine Spitzenleistung menschlicher Lebenskultur. Hier wohnte die Elite der Magna-Mitarbeiter. Vor zwanzig Jahren waren die ersten Häuser entstanden, im Zuckerbäckerstil des kanadischen Hofarchitekten Stronachs, der schon das Dorf „Aurora“ bei Toronto errichtet hatte. Man konnte dem Stil des Fontana Parks ankreiden, dass er keine Anleihe an heimischer Volkskultur nahm. Dafür war er in punkto Sauberkeit unübertroffen. Das einzige, was auf dem Gelände an die Umgebung erinnerte, waren die Plastiktaschen für die Sonntagszeitungen. „Doktor Goldfisch fliegt wieder.“ Die Kronen Zeitung startete eine Sympathiekampagne für Rogan. Das Mitziehen der Medien gefiel Westenthaler.

Von seiner Veranda aus hatte er Ausblick auf ein Rechteck perfekten Rasens und das dazugehörige Befeuchtungssystem. Ein Netz feiner Strahlen aus Leitungswasser mit Pestiziden überzog das Dunkelgrün. Das Gemisch unterband den Wuchs aller Pflanzen, die nicht zur Grünfläche gehörten. Nur die geradesten, saubersten Rasengräser bekamen ihre Chance. Das Ergebnis ließ sich sehen. Er fand das System großartig, die Auslese klappte so gut.

Westenthaler mochte die Vorstellung, dass alles klappte. Bei diesem Wort malte er sich Drehkreuze aus, oder Zahnräder, die einschnappten. Es war die Metapher für seine berufliche Tätigkeit: Bei Magna kämpfte er um Vernetzung, darum, dass sich eine Sache in die andere fügte, kämpfte um Verknüpfungen, Verbindungen, reibungslose Abläufe. Er liebte die Perfektion. Wenig verschaffte ihm größere Befriedigung als ein Befeuchtungssystem, das den Rasen gleichzeitig tränkte und frei von Schädlingen hielt.

Natürlich musste man bei der Anwendung chemischer Substanzen vorsichtig sein. Eine Bürgerinitiative hatte gegen die erhöhten Nitritwerte des Oberwaltersdorfer Grundwassers demonstriert. Westenthaler verachtete diese Querulanten. Erstens lagen die Grenzwerte zwanzig Mal höher – wozu gab es denn die verdammten Grenzwerte? – und zweitens besaß dieses Land die beste Wasserqualität der Welt. Diese Utopisten sollten zu Gott beten, dass Stronach seinen Rasen nicht anderswo pflanzte! Westenthaler war selbst ein Naturschützer – aber einer, der kapierte, dass jede Lebensform in der Natur ihren Platz zugewiesen bekommen hatte.

Wilder Graswuchs gehörte in den Nationalpark, feiner Golfrasen gehörte in den Fontana Park. Wer das nicht verstand, stellte sich absichtlich dumm. Zudem musste man die wirtschaftliche Komponente mitdenken. Ohne Wirtschaft, ohne Cashflow, ohne Prosperität würde es auch keinen Naturschutz geben! Diese Region war in den letzten fünfundzwanzig Jahren erblüht. Aus ein paar abgewirtschafteten Kuhdörfern mit Fabrikruinen, umzingelt von mickrigen Erdäpfelbauern, hatte sich eine Mustersiedlung geschält.

Den Kritikern mangelte es an Ganzheitlichkeit, dachte Westenthaler, die Protestiererei setzte einen Circulus Vitiosus in Gang. Sie schreckte Investoren ab, und dann Arbeitsplätze adé, früher oder später würde die junge Generation mit Drogen dealen.

Den Zusammenhang der Standortfrage mit einem sauberen Golfrasen versuchten die Schlechtmacher wegzudiskutieren. In Wirklichkeit hatte Westenthaler oft erlebt, wie eine Golfrunde Wunder wirkte. Golf war die Kunst der eleganten Nebensätze. Zwischen zwei Löchern fielen Entscheidungen von einer Tragweite, wie sie in der Welt der plumpen Diskussionskultur, die alles zerredete oder auf die Basis von Basisentscheidungen stellte, absolut undenkbar waren.

Von früher kannte er ja die politische Seite. Mit masochistischer Begeisterung plagten sich die Amtsträger durch endlose Sitzungen, in denen ungewaschene Gewerkschafter das Wort führten. Deshalb stagnierte dieses Land, dachte Westenthaler beim Anblick der Rasenbesprühung mit leichter Bitterkeit.

Er persönlich verschmerzte die Stagnation, solange in seiner nächsten Umgebung alles klappte. Zu seinem Leidwesen ignorierten die Einheimischen zwar die echte Rasenkultur, pflegten jedoch weiterhin mit Inbrunst ihre verstaubte und, man durfte es ja in Stronachs Gegenwart nicht laut aussprechen, ihre letztlich noch immer ostische Tradition von Schmutz, Keimen und Utopien.

Westenthaler drückte die Absätze seiner genagelten Schuhe in den Boden, diesmal vorsichtig, fast zärtlich. Die Füße passten perfekt in diese Maßarbeit aus Leder – ein Kunstwerk. Wenn man nicht zu trommeln begann, schadete es weder den Schuhen noch dem Rasen. Er füllte seine Lungen mit der kühlen Septemberluft Oberwaltersdorfs, er liebte die Natur wirklich. Sein Mobiltelefon läutete, ungewöhnlich, normalerweise schlief der Alte zu dieser Uhrzeit.



Der Text spielt im Jahr 2020 und ist frei erfunden. Auch wenn einige Figuren realen Vorbildern nachgebildet sind, entspringt sowohl Handlung als auch Personal ausschließlich der Phantasie von Martin Amanshauser.